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Stille Explosionen

Noch ist der Bristolkarton, auf den Inga Hehn eben eine rautenförmige Schablone legt, eine glatte weiße Fläche. Bald wird die Künstlerin ihre Feder über die Kante der Schablone ziehen und winzige Tropfen schwarzer Tusche auf das Papier schleudern. Stille Explosionen. Die Blätter, die so entstehen, nennt Hehn Minidramen. Die Schablonen werden frei von Hand geschnitten, damit ihre Linien nicht zu gerade sind und eine „weiche Geometrie“1 formen. Sie geben der Feder Widerstand und das ist kein Zufall.

Inga Hehn, die bei Ursula Hübner an der Kunstuniversität Linz Malerei studiert hat und an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig der Lithografie verfiel, eignet sich in minutiösen Versuchsreihen die inzwischen fast schon vergessene Handwerkskunst verschiedenster grafischer Techniken an, nur um sie in ihrem Werk auf ungewöhnliche Art und Weise zeitgenössisch zu verwenden. Der ihr eigenen Genauigkeit setzt die Künstlerin dabei bewusst Widerstände entgegen. 

In der Serie DRIFT verweigert sie der Marmorierung ihre oft gefällig anmutende Farbigkeit und wirft sie auf das Schwarz der Tusche und das Weiß verschiedenster Papiere zurück. Auf den ersten Blick sieht man Hehns minimalistischen Kompositionen nicht an, dass sie im Atelier über Wasseroberflächen gleiten, so präzise liegen sie am Blatt. Tatsächlich ist die Tusche im Wasserbad aber immerzu in Bewegung, jedes Blatt, das aufgelegt wird, eine Momentaufnahme, die schon eine Sekunde später ganz anders aussehen muss. Rührt Hehn Säure, Algen, Seife oder Kleister ein, breitet sich die Farbe je nach Zusatz schneller oder langsamer aus. Auch wenn die Künstlerin dadurch ein gewisses Maß an Einfluss geltend macht, geht es ihr letztlich nicht darum, die Marmorierung zu zähmen: „Die Wasserbewegung bringt den Zufall ins Spiel. Die Arbeit bekommt ein Eigenleben und entfernt sich von mir.“2 Über die Auswahl der entstandenen Blätter eignet sich die Oberösterreicherin ihre Werke wieder an; nur etwa eine von fünfzehn Marmorierungen, die sie von der Wasseroberfläche abzieht, wird letztendlich ausgestellt. 

Wenn Hehn von ihrer Arbeit im Atelier erzählt, lässt das unwillkürlich an Drawing Restraint denken, jenen Titel, den der amerikanische Künstler Matthew Barney in den späten 1980er Jahren einer Serie von performativen Videos gegeben hat, in denen der ehemalige Athlet zu sehen ist, wie er gegen selbsterrichtete Hindernisse ankämpft, um einen Stift auf ein Blatt Papier zu setzen. Man könnte sagen, dass Barney ein Künstler ist, der sich das Zeichnen schwerer macht, als es sein muss und eben dadurch zu seinem Werk kommt. Das trifft auch auf Inga Hehn zu, die aber im Unterschied zu Barney nicht den Prozess des Zeichnens, sondern die Zeichnung selbst ausstellt, die sie im Spiel mit dem Prozess gewonnen hat. So unterschiedlich diese zwei Künstler*innen auch sind, eines haben sie gemeinsam: Beide stellen Widerspenstigkeiten her und fordern sich an ihnen heraus. 

Inga Hehn tut das manchmal ganz langsam. In der Serie Trichter beginnt jede Zeichnung mit einem Punkt, der sich zum Strich dehnt, dem sich andere Striche anschließen, die sich nach und nach in eine Form weiten, die sich selbst ihr Ziel ist. Sechs Monate, manchmal auch ein Jahr arbeitet die Künstlerin an diesen Grafiken. Unversehens findet man sich in ihnen mitten in der Natur wieder, auch wenn ihre Formen manchmal nichts spiegeln, was wiedererkennbar ist. Die Langsamkeit, aus der diese Zeichnungen kommen, lässt mitunter vergessen, dass sie nicht ganz von selbst am Blatt gewachsen sind. „Zeitverloren treibe ich die Striche vor mir her.“3, sagt Hehn. Aber ist nicht auch das Gegenteil wahr? Übernehmen die Striche nicht gerade deshalb, weil die Künstlerin sie zeitverloren setzt, die Führung? 

Im white cube sind die stillen Explosionen längst verklungen. So performativ Hehns Arbeit im Atelier auch ist, im Ausstellungsraum tritt die Künstlerin hinter ihrem Werk zurück. Sie hat guten Grund dazu. Die Papiere, die kleine und große Dramen aufzeichnen, locken ihr aufmerksames Gegenüber. Auch wenn man die stillen Explosionen am Blatt nicht hören kann, sehen kann man sie allemal. 

Esther Strauß

 

                                                                                                                           

1 Inga Hehn im Gespräch mit Esther Strauß am 22. April 2021. 2 ebd. 3 ebd. 

 https://estherstrauss.info/ 

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"Die Künstlerin überzeugte die Jury sofort durch ihr breit gefächertes Formenvokabular und ihre handwerkliche Perfektion als klassische Zeichnerin. Hehn verdichtet den Strich, eröffnet einen immer wieder überraschenden Mikrokosmos an Linien. Wie Klemens Brosch, der Namensgeber des Preises und Meisterzeichner, skizziert sie Körper und Körperhaftes, versenkt sich in die Natur und erkundet in feinsten Strichgefügen mit Röhrchenfeder Millimeter für Millimeter diverse Oberflächen. Man entdeckt Düsteres ebenso wie Schönes, Bedrohliches ebenso wie Humorvolles, - die Zeichnerin forciert genaues Sehen. Akribisch, ja wissenschaftlich erforscht Inga Hehn die Linie, die sie als Einzellinie untersucht oder zu Strichpaaren bündelt, zu Kreisen erweitert, zu ausschnitthaften Landschaften oder rudimentären Körperformen formiert. Hehns Linie findet zielstrebig ihren eigenständigen Weg, wird weitergetrieben, kann sich entfalten, einen Rhythmus aufnehmen. Formsicher kombiniert sie die oft minimalistisch, reduzierten, abstrahierten Zeichnungen und mikroskopischen Verdichtungen zu ästhetisch gestalteten Wandinstallationen. Sie erobert den Raum mit Liniengespinsten, mit Feder, in Tusche, auf Stein oder auch mit eigenen Haaren, die, in Luftmaschen gewebt, dreidimensionale, filigrane, poetische Linienknäuel ergeben. Hehns ungewöhnliche Perspektiven, ihre Ausschnitte wirken oft versteinert, erstarrt. Mit melancholisch psychologischem Blick schildert die Künstlerin das hintergründig Zeitlose, Überwirkliche, entführt und ins transzendente Welten. Ihr zeichnerische Duktus ist exakt, penibel, bereits jetzt virtuos. Im Ausloten der zeichnerischen Vielfalt und der Strichmöglichkeiten steht Inga Hehn in einer großen Tradition oberösterreichischer Zeichner wie Alfred Kubin, Klemens Brosch, Siegfried Anzinger oder Othmar Zechyr."

 

                                                                                                                          

Dr. Elisabeth Nowak- Thaller, Lentos Kunstmuseum Linz                                                                           anlässlich der Klemens Brosch Preisverleihung 2013

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